Von Aurich in die Hölle

360 km sind es von Heinsberg nach Aurich. In etwas über drei Stunden war ich dort. Eine Fahrt in einem bequemen Auto, mit guter Musik und wohltemperiert liegt hinter mir. An diesem Samstag, den 29.04.2023 treffen sich Menschen wie Sabine, Dierk und ich vor der Sparkassen-Arena in Aurich.
In Aurich ist es schaurig, so heißt ein Sprichwort. Für die Tiere stimmt das auf jeden Fall. Mehr als das – in Aurich sind sie verängstigt, verzweifelt. Leiden und schreien. Vollkommen legal allerdings – von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.
Die Organisation Ostfriesen gegen Tierleid hat an diesem Tag zur Demo gegen die Machenschaften von Politik, Behörden und Tierwirten aufgerufen. Es ist ein sonniger Tag – das Gegenteil von schaurig. Und gekommen sind Teilnehmer von verschiedensten Organisationen. Gemeinsam werden wir für die Tiere auf die Straße gehen.
Tiere, die nicht in einem bequemen Autositz fahren. Angeschnallt und durch Knautschzone und Airbag geschützt. Ein schönes Ziel vor Augen. Frei und selbstbestimmt das Leben leben.
Statt 360 km nach Aurich geht es für sie 3.600 km von Aurich nach Marokko. Oder in sonstige Nicht-EU-Staaten. Rinder, Hühner und auch Schweine – sie alle leiden Höllenqualen. Die in Aurich durch Landrat und Amtsveterinäre weiter durchgeführte Praxis der Lebendtiertransporte ist ein Schandfleck. Für den Landkreis, für das Land Niedersachsen und für die Bundesrepublik Deutschland.
Gemeinschaftlich setzen wir in Aurich ein Zeichen gegen Tierleid, Tierausbeutung und Tiertransporte insgesamt. Ich bin stolz darauf, dass wir mit einer kleinen Delegation dabei sein konnten. Wünschte, es wären noch weitaus mehr Teilnehmer vor Ort.
Der Demonstrationszug führt uns durch die Straßen von Aurich. Mit vielen Transparenten und Schildern sind die Aktivistinnen unterwegs. Wieder einmal scheinen es überwiegend Frauen zu sein, die für die Tiere auf die Straße gehen. Aber alle Altersklassen sind vertreten, Jung und Alt – Seite an Seite. Mit Megaphonen ausgestattet dirigieren die Aktivistinnen der Ostfriesen gegen Tierleid unseren Demozug. Trillerpfeifen und Trommeln schallen durch die Straßen. Die Polizei regelt den Verkehr.
„Tiertransporte stoppen – jetzt sofort.“
„Schluss mit dem Profit – auf Kosten der Tiere“
„Aurich aufgepasst – Tierquälerei in Eurer Nachbarschaft.“
Wird es durch die Straßen gerufen. Am Anfang sehr zaghaft und zögerlich. Auch ich bin noch vollkommen eingerostet und muss erst meine Stimme finden. Im wahrsten Sinne. Höre erst einmal zu, lerne die Sprüche, um dann mit einzustimmen. Sehr schnell aber aus voller Kehle. Ich bin nicht diesen weiten Weg gefahren, nur um stumm mitzulaufen, so denke ich.
Stimme für die Tiere heißt dann auch Mut zu haben. Mut, laut zu sein. Und so skandiere ich zumeist aus voller Kehle mit – bin mein eigenes Megaphon. Gerade wir Männer sehe ich in der Pflicht, mit unserem Organ durchzudringen. Im wahrsten Sinne. Die Slogans an die Ohren der Menschen von Aurich zu tragen.
Mehr Männer im Tierrecht und Tierschutz braucht es ohnehin. Nicht nur wegen der lauteren Stimme, sondern auch als Zeichen, dass die Liebe zu den Tieren universell ist. Der überwiegende Teil der Tierausbeuter dürfte indes männlichen Geschlechtes sein. Es ist daher auch an der Zeit, dass wir Männer unser Herz finden und gegensteuern.
Viele Aktivistinnen und Aktivisten im Zug bleiben leider stumm. Warum, frage ich mich? Doch ich kenne die Antwort: Wir sind es alle nicht gewöhnt, laut zu sein. Aus der Masse herauszuragen. Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Haben vielleicht Angst vor der eigenen Courage – wollen in der Masse untergehen. Auch ich habe viel zu lange so gedacht und gehandelt.
Doch wie gut ist der Eindruck, den wir hinterlassen, wenn wir nur stumm oder leise durch die Straßen ziehen? Wo ist die Leidenschaft, die Liebe und auch die Wut, die Dich zu dieser Demo getragen hat? Lasse sie doch raus – nimm Dir Dein Herz und werfe es in die Waagschale.
Wenn nicht jetzt – wann dann? All die Sprüche, die Du als Tierrechtlerin oder Veganerin ertragen musst. All das Elend, das Du kennst und das von den anderen ignoriert wird. Es gibt Dir die Kraft und Motivation, hier zu sein. Auf die Straße zu gehen.
Ich rufe und skandiere, so gut es geht – das Kratzen im Hals ist auch heute noch da, als ich diese Zeilen schreibe. Aber weder werde ich in Marokko vom Schiff geprügelt, noch in Aurich beim widerlichen Verein Ostfriesischer Stammviehzüchter für den nächsten Transport in eine Datenbank eingetragen. Um Tage oder Wochen später entrechtet und für den Profit auf den nächsten Transport verbracht zu werden.
Nach einer Kundgebung am Rathaus und Rückmarsch zum Startplatz der Demo ist an diesem Tag mein persönlicher Einsatz erstmal vorbei. Ich muss noch die Rückreise schaffen, bei unserer zweiten Vorsitzenden Kraft für den Rückweg tanken. Man(n) ist keine 20 mehr. Eine Teilnahme an der späteren Menschenkette war daher nicht möglich. Vielleicht beim nächsten Mal – da geht bestimmt noch was.
Denn was sind am Ende schon die paar Hundert Kilometer und die insgesamt 20 Stunden, die ich geopfert habe? Der kneifende Rücken nach 7 Stunden im Autositz? Nichts im Vergleich zu den Leiden, die so viele Tausend Tiere durchmachen mussten und müssen.
Ihre Rufe bleiben weiter ungehört. Durch Politiker, Behördenangehörige und die eigentlichen Tierausbeuter in der Tierzucht und Tierindustrie. Auch grüne Minister in Land und Bund ändern an der Tierausbeutung nichts.
Den Teilnehmerinnen und Organisationen am gestrigen Marsch durch Aurich zolle ich meinen tiefen Respekt. Allen voran den Ostfriesen gegen Tierleid. Unser Verein und ich werden beim nächsten Mal sicher wieder dabei sein. Hoffentlich mit einer größeren Delegation.
Den noch stummen Teilnehmerinnen möchte ich ins Ohr flüstern: habe keine Angst, Deine Stimme zu nutzen. Flüstere am Anfang nur mit. Es dauert nicht lange, bis Du merkst: Deine Lunge und Deine Stimmbändern können mehr. Hole tief Luft, verleih Deiner Frustration und Deiner Liebe gleichzeitig Ausdruck. Es wird Dich befreien.
Denn je mehr von uns rufen, desto mehr werden wir gehört werden. Und am Ende befreist Du dann nicht nur Dich, sondern auch die Tiere. Nur Mut – wir stehen bei Dir. An Deiner Seite. Du bist nicht allein.
Nächstes Mal kommt dann vielleicht auch Deine Freundin oder Freund mit. Deine Mutter oder Nachbar. Oder Du liebe Leserin. Sei dabei. Wir werden immer mehr.
Bis man uns nicht mehr überhören oder übersehen kann. Und ignorieren schon mal gar nicht.